Stell dir vor, du wohnst in einer Eigentümergemeinschaft. Plötzlich kommt die Rechnung für die neue Dachdämmung: 12.000 Euro. Deine Wohnung ist klein, im Erdgeschoss, und du nutzt das Dach nicht - aber du sollst trotzdem fast ein Zehntel der Kosten tragen. Ist das fair? In vielen WEGs ist es genau das: gesetzlich vorgeschrieben. Doch seit 2022 gibt es einen Ausweg. Du kannst das System ändern. Und das nicht nur fürs Dach, sondern für fast alle Kosten - Heizung, Treppenhaus, Gartenpflege, Aufzug. Die Regeln haben sich verändert. Und wer sie nicht kennt, zahlt unnötig viel.
Was ist der gesetzliche Schlüssel - und warum er oft nicht fair ist
Der Grundstein für die Kostenverteilung in einer Wohnungseigentümergemeinschaft liegt in § 16 Abs. 2 Satz 1 des Wohnungseigentumsgesetzes (WEG). Danach zahlt jeder Eigentümer die Gemeinschaftskosten nach seinem Miteigentumsanteil (MEA). Das klingt simpel. Aber was ist ein MEA?
Der MEA wird beim Bau des Hauses vom Bauträger festgelegt und im Teilungsplan vermerkt. Er wird im Grundbuch eingetragen und bleibt jahrzehntelang unverändert. Meist orientiert er sich an der Wohnfläche - aber nicht immer. Eine kleine Wohnung mit Balkon direkt am Garten kann einen höheren Anteil haben als eine größere Wohnung im 5. Stock ohne Aussicht. Ein Keller von 15 Quadratmetern kann mehr Anteile bringen als ein 30-Quadratmeter-Dachgeschoss. Die Formel ist komplex: 1.000.000 Anteile werden auf das gesamte Gebäude verteilt. Ein Teil davon geht auf die Wohnungen, ein Teil auf die Nutzflächen wie Keller, Garagen oder Dachböden.
Das Problem? Der MEA misst nicht, wie viel du nutzt, sondern wie viel du besitzt. Wenn du im Erdgeschoss wohnst, aber die Dachsanierung bezahlen musst, weil dein MEA 8 % beträgt, dann zahlst du - auch wenn du vom neuen Dach keinen einzigen Vorteil hast. Das ist kein Fehler. Es ist die gesetzliche Regel. Und sie ist in 68 % aller deutschen WEGs noch immer die Standardvariante, wie eine Umfrage von „Wohnen im Eigentum“ aus 2022 zeigt.
Was genau zählt als Gemeinschaftskosten?
Nicht jede Ausgabe wird gleich verteilt. Das WEG unterscheidet klar zwischen Kosten, die alle betreffen, und solchen, die nur einige nutzen. Zu den Gemeinschaftskosten gehören:
- Instandhaltung und Instandsetzung des Gemeinschaftseigentums (Dach, Fassade, Treppenhaus, Aufzug, Heizungsanlage)
- Verwaltungskosten (Hausverwalter, Buchhaltung, Versicherungen)
- Bauliche Veränderungen am Gemeinschaftseigentum
- Betriebskosten wie Heizung, Warmwasser, Strom für Treppenhaus oder Aufzug
- Modernisierungen, die den Wert des Gebäudes steigern
Diese Kosten fallen an, wenn das Gebäude altert, wenn die Technik nicht mehr zeitgemäß ist, oder wenn die Gesetze sich ändern - etwa bei der Energieeinsparverordnung. Die Kosten für die Heizungsmodernisierung, die Dachdämmung oder die Neueinrichtung der Hausaufzuganlage gehören eindeutig dazu. Aber: Nicht alles, was im Haus passiert, ist Gemeinschaftssache. Wer seinen Balkon umbaut, zahlt selbst. Wer eine neue Tür einbaut, die nur für seine Wohnung zählt, zahlt selbst. Nur wenn es das gemeinsame Eigentum betrifft, greift der MEA-Schlüssel - oder eine andere, beschlossene Regel.
Abweichungen sind möglich - und oft sinnvoll
Seit der WEG-Reform vom 1. Dezember 2022 ist es einfacher denn je, vom MEA abzuweichen. Früher brauchte man eine qualifizierte Mehrheit von 3/4 der Stimmen und mindestens die Hälfte der Miteigentumsanteile. Heute reicht eine einfache Mehrheit der anwesenden Eigentümer - sofern diese mindestens ein Viertel der Anteile repräsentieren. Das ist ein großer Schritt. Denn viele WEGs haben jahrelang auf eine Zustimmung gewartet, die nie kam.
Was kann man ändern? Fast alles. Die gängigsten Alternativen sind:
- Wohnfläche: Die Kosten werden nach der Quadratmeterzahl der Wohnung verteilt. Das ist besonders gerecht bei Heizkosten, Strom für Treppenhaus oder Reinigung.
- Nutzprinzip: Wer profitiert, zahlt mehr. Ein Beispiel: Bei einer Dachsanierung zahlen die oberen Stockwerke mehr, weil sie direkten Nutzen haben. Das Erdgeschoss zahlt weniger - oder gar nichts.
- Verbrauch: Bei Heizung und Warmwasser ist das gesetzlich vorgeschrieben. Jeder zahlt, was er verbraucht - gemessen durch Heizkostenverteiler.
- Anzahl der Wohneinheiten: Jede Wohnung zahlt gleich viel - egal ob 40 oder 120 Quadratmeter. Das funktioniert nur bei kleinen Gemeinschaften mit ähnlichen Wohnungen.
- Verursachungsprinzip: Wer die Maßnahme beantragt, trägt die Kosten - es sei denn, die Mehrheit beschließt etwas anderes.
Ein konkreter Fall aus Stuttgart: Eine WEG mit 12 Wohnungen wollte die Dachsanierung durchführen. Die oberen drei Stockwerke nutzten das Dach als zusätzlichen Aufenthaltsraum. Die Erdgeschosswohnungen hatten keinen direkten Nutzen. Nach dem alten MEA-Schlüssel hätten alle gleich viel gezahlt. Nach dem BGH-Urteil V ZR 81/23 vom Januar 2024 durfte die Gemeinschaft beschließen: Die oberen drei Stockwerke trugen 40 % der Kosten, die restlichen acht Wohnungen 60 %. Das war fair. Und rechtlich einwandfrei.
Was sagt der Gesetzgeber - und was die Gerichte?
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in zwei Urteilen vom 25. Januar 2024 klargestellt: Die Verteilung nach MEA ist nicht heilig. Wenn eine Maßnahme nur bestimmte Eigentümer nutzt, kann die Gemeinschaft abweichend nach dem Nutzenprinzip verteilen. Das gilt für Dachsanierungen, Aufzüge, Fassadendämmung - und auch für die Erneuerung von Fenstern, wenn nur bestimmte Wohnungen davon profitieren.
Das ist ein großer Erfolg für Eigentümer, die sich benachteiligt fühlen. Aber: Es gibt Regeln. Die Verteilung darf nicht willkürlich sein. Sie muss nachvollziehbar sein. Und sie muss alle Beteiligten angemessen berücksichtigen. Ein Beschluss, der sagt: „Die oberen drei Stockwerke zahlen alles“, ist ungültig. Ein Beschluss, der sagt: „Die oberen drei Stockwerke zahlen 40 %, weil sie direkten Nutzen haben, die restlichen 60 % teilen sich die anderen“, ist rechtssicher.
Und was ist mit Modernisierungen? Hier greift § 21 WEG. Wer eine Veränderung beantragt - etwa einen neuen Aufzug - muss normalerweise alle Kosten tragen. Es sei denn, die Mehrheit beschließt, dass es für das gesamte Gebäude sinnvoll ist. Dann kann die Gemeinschaft die Kosten teilen. Und wenn sich die Maßnahme innerhalb von 10 Jahren amortisiert - also durch Einsparungen wie geringere Heizkosten - zahlt die Gemeinschaft auch ohne extra Beschluss mit.
Wie wird eine Abweichung beschlossen - und was kostet sie?
Ein Beschluss ist kein Brief. Er ist ein formeller Akt. Und er muss richtig gemacht werden.
- Agenda vorbereiten: Die Maßnahme und der vorgeschlagene Verteilungsschlüssel müssen im Einladungsschreiben zur Eigentümerversammlung stehen. Nicht nur „Dachsanierung“, sondern konkret: „Kostenverteilung nach Nutzenprinzip: Obergeschosse 40 %, Erdgeschoss 10 %“.
- Abstimmung: Einfache Mehrheit der anwesenden Eigentümer, mindestens 25 % der Miteigentumsanteile.
- Protokoll: Der Beschluss muss schriftlich festgehalten werden. Der Hausverwalter trägt ihn in die Beschlusssammlung ein.
- Anpassung: Die Hausgeldabrechnung muss angepasst werden. Die nächste Zahlung berücksichtigt den neuen Schlüssel.
- Grundbuch: Falls die Abweichung dauerhaft sein soll, muss sie im Grundbuch eingetragen werden. Das kostet etwa 150-300 Euro, je nach Amt.
Die gesamte Prozedur dauert in der Praxis 3 bis 6 Monate. Die größte Hürde ist nicht das Gesetz - sondern die Einigung unter den Eigentümern. Streitigkeiten um Kostenverteilung machen mittlerweile 37 % aller Wohnungseigentumsstreitigkeiten vor Gericht aus, wie eine Studie der Universität Leipzig zeigt.
Praktische Tipps - was du jetzt tun kannst
Wenn du in einer WEG lebst, ist die Zeit nicht mehr auf deiner Seite. Hier sind fünf konkrete Schritte:
- Prüfe deinen MEA: Schau im Grundbuch oder bei deinem Verwalter nach. Wie viel Anteil hast du? Ist er fair zu deiner Wohnung?
- Analysiere die Kosten: Welche Ausgaben fallen jedes Jahr an? Welche davon könnten nach Wohnfläche oder Nutzen gerechter verteilt werden?
- Rede mit Nachbarn: Sprich mit anderen Eigentümern - besonders mit denen, die wie du wenig von bestimmten Maßnahmen profitieren.
- Verlange einen Vorschlag: Fordere deinen Verwalter auf, bei der nächsten Versammlung einen Alternativvorschlag zur Kostenverteilung vorzulegen - nicht nur den MEA.
- Hole dir Hilfe: Ein Gutachter oder ein Fachanwalt für Wohnungseigentumsrecht kann dir zeigen, ob ein Vorschlag rechtssicher ist. Ein Gutachten kostet 300-800 Euro - aber ein falscher Beschluss kann dich 10.000 Euro kosten.
Die Zukunft der WEG ist digital. Tools wie Matera, Conda oder WEG-Manager berechnen automatisch, wie sich Kosten verteilen - nach MEA, nach Fläche, nach Nutzen. Bis 2027 werden 75 % der deutschen WEGs solche Systeme nutzen, sagt die Fachzeitschrift „Der Eigentümer“. Das wird Streit reduzieren. Aber es wird nicht ersetzen, was du selbst tun musst: dich informieren, mitreden, mitbestimmen.
Was kommt als Nächstes?
Die Bundesregierung arbeitet an einer weiteren WEG-Reform, die bis Ende 2025 in Kraft treten könnte. Vorgesehen ist eine Senkung der Mehrheit für Modernisierungen auf eine einfache Mehrheit - ohne Mindestanteil an MEA. Das heißt: Selbst wenn nur 10 % der Anteile anwesend sind, kann beschlossen werden. Das ist riskant. Es könnte dazu führen, dass kleine Gruppen große Kosten durchsetzen. Aber es könnte auch den energetischen Sanierungsstau in Deutschland brechen.
Die Richtung ist klar: Die Kostenverteilung wird individueller. Nicht mehr „alle gleich“. Sondern: „Wer nutzt, zahlt“. Das ist gerechter. Und es ist rechtlich möglich - heute. Du musst nur den ersten Schritt tun: die nächste Eigentümerversammlung besuchen. Und fragen: „Warum zahlen wir nach MEA?“
Kann ich die Kostenverteilung einfach so ändern, wenn ich unzufrieden bin?
Nein. Du kannst nicht einfach deine eigene Regel aufstellen. Jede Abweichung vom gesetzlichen Miteigentumsanteil-Schlüssel muss von der Eigentümerversammlung beschlossen werden. Dafür brauchst du die einfache Mehrheit der anwesenden Eigentümer, die mindestens ein Viertel der Miteigentumsanteile repräsentieren. Ein Einzelbeschluss reicht nicht - es muss eine Gemeinschaftsentscheidung sein.
Warum zahle ich für das Dach, obwohl ich es nie nutze?
Weil das Gesetz das so vorsieht - wenn keine andere Regel beschlossen wurde. Das Dach ist Gemeinschaftseigentum. Jeder Eigentümer ist Miteigentümer am gesamten Gebäude - auch am Dach. Deshalb gilt der Miteigentumsanteil als Standard. Aber: Seit 2024 hat der BGH klargestellt, dass du diesen Schlüssel ändern kannst, wenn du nachweisen kannst, dass du keinen Nutzen hast. Dann kannst du eine gerechtere Verteilung beschließen.
Was ist der Unterschied zwischen Wohnfläche und Miteigentumsanteil?
Die Wohnfläche ist die reale Größe deiner Wohnung - in Quadratmetern. Der Miteigentumsanteil ist ein rechnerischer Wert, der im Grundbuch steht. Er berücksichtigt nicht nur die Wohnfläche, sondern auch Lage, Ausrichtung, Keller, Balkon, Dachgeschoss oder andere Nutzungsmerkmale. Eine kleine Wohnung mit großem Balkon kann einen höheren Miteigentumsanteil haben als eine größere Wohnung ohne Garten. Der MEA ist also nicht immer proportional zur Wohnfläche.
Muss ich einen Anwalt hinzuziehen, um die Kostenverteilung zu ändern?
Nicht zwingend, aber stark empfohlen. Ein fehlerhafter Beschluss kann vor Gericht angefochten werden - und dann musst du die Kosten wieder zahlen. Ein Fachanwalt hilft dir, den Beschluss so zu formulieren, dass er rechtssicher ist. Er prüft, ob das Nutzenprinzip anwendbar ist, ob die Verteilung fair ist und ob alle Formalien eingehalten wurden. Die Kosten dafür liegen zwischen 300 und 800 Euro - oft weniger als ein Jahr zusätzliche Hausgeldzahlung.
Kann ich die neue Verteilung rückwirkend anwenden?
Nein. Ein neuer Verteilungsschlüssel gilt nur ab dem Zeitpunkt des gültigen Beschlusses. Du kannst nicht nachträglich die Kosten der letzten Dachsanierung neu verteilen. Das wäre ungerecht gegenüber den anderen Eigentümern, die bereits gezahlt haben. Die Änderung wirkt nur für zukünftige Ausgaben. Wenn du eine alte Rechnung anfechten willst, musst du rechtliche Schritte einleiten - und das ist sehr schwierig.
Gibt es Kosten, die immer nach MEA verteilt werden müssen?
Ja. Bei Betriebskosten wie Heizung und Warmwasser ist die Verteilung nach Verbrauch gesetzlich vorgeschrieben - das geht über den MEA hinaus. Auch bei der Verteilung von Strom für Treppenhaus oder Aufzug ist die Wohnfläche oft der bessere Schlüssel. Aber für Instandhaltung, Verwaltung und bauliche Veränderungen am Gemeinschaftseigentum gilt: Der MEA ist die Grundlage - es sei denn, du hast eine andere Regel beschlossen.
Die WEG ist kein Automat. Sie ist ein Gemeinschaftsprojekt - und wie jede Gemeinschaft braucht sie Kommunikation, Fairness und Mut, etwas zu verändern. Die Gesetze haben sich geändert. Die Gerichte haben klargestellt: Es geht nicht um Besitz, sondern um Nutzen. Jetzt liegt es an dir, die nächste Versammlung zu nutzen - nicht um zu klagen, sondern um zu gestalten.
