Was sind Erschließungskosten wirklich?
Beim Neubau einer Immobilie denkst du an Baukosten, Material, Architekt und Finanzierung. Aber was passiert, wenn du plötzlich eine Rechnung von 30.000 Euro bekommst - und das ist nicht der Bauherr, sondern die Stadt? Das sind Erschließungskosten. Sie sind keine Option, keine Empfehlung, sondern eine gesetzliche Pflicht. Jedes Grundstück, das bebaut werden soll, muss an die öffentliche Infrastruktur angeschlossen werden: Wasser, Abwasser, Strom, Gas, Straße, Gehweg, Beleuchtung. Wer das Grundstück kauft, zahlt dafür. Nicht die Allgemeinheit. Nicht die Steuerzahler. Du.
Diese Kosten werden nicht vom Bauunternehmer berechnet, sondern von deiner Gemeinde. Und die hat dabei fast freie Hand. Es gibt keine bundesweite Formel. Was in München 8.000 Euro kostet, kann in einer Kleinstadt im Osten 25.000 Euro sein. Und das, obwohl das Grundstück genauso groß ist. Die Kommune entscheidet, wie viel sie verlangt - basierend auf ihrer eigenen Satzung, die du vor dem Kauf kaum kennst.
Wie werden Erschließungskosten berechnet?
Es gibt zwei Hauptbereiche: die technische und die verkehrsmäßige Erschließung. Technisch bedeutet das: Leitungen von der Straße bis zu deinem Grundstücksgrenze. Das sind Wasserrohre, Abwasserkanäle, Stromkabel, Gasleitungen, Internetkabel. Verkehrsmäßig: Die Straße, die vor deinem Grundstück liegt, der Gehweg, die Laternen, der Lärmschutzwall. Alles, was du brauchst, um zu Hause zu wohnen - und was die Gemeinde vorher bauen musste.
Die Berechnung erfolgt meist nach Quadratmeter. In Deutschland liegt der Durchschnitt zwischen 50 und 100 Euro pro Quadratmeter. Ein Grundstück von 500 m²? Dann rechne mit 25.000 bis 50.000 Euro. Aber Vorsicht: Das ist nur eine grobe Schätzung. In einigen Regionen, besonders in ländlichen Gebieten mit geringer Infrastruktur, kann der Preis auch bei 6.000 Euro liegen. In Ballungsräumen mit teuren Materialien und hohen Löhnen sind 70.000 Euro keine Seltenheit.
Ein weiterer Punkt: Die Kosten werden nicht sofort nach dem Bau berechnet. Die Gemeinde kann bis zu fünf Jahre warten, bevor sie den Bescheid verschickt. Du baust dein Haus, ziehst ein, machst dir Sorgen um die Raten - und dann kommt die Rechnung. Plötzlich. Ohne Vorwarnung. Das ist kein Fehler, das ist Gesetz. Aber es macht Planung unmöglich.
Was ist fair - und was ist zu viel?
Fair ist, wenn du nur für das zahlst, was tatsächlich gebaut wurde. Wenn die Straße schon da ist, solltest du nicht für ihre Verbreiterung zahlen. Wenn das Abwasserrohr nur 20 Meter von der Straße entfernt liegt, solltest du nicht für 100 Meter Leitung zahlen. Aber genau das passiert oft.
Experten wie Professor Klaus Schäfer von der Hochschule für Technik Stuttgart sagen: Mehr als 75 Euro pro Quadratmeter sind unverhältnismäßig, wenn es nur um den Anschluss geht. Das ist die reine Infrastruktur. Keine Luxusverbreiterung. Keine künstliche Lärmschutzwand. Nur das Nötigste. Aber viele Gemeinden rechnen auch die Planung, die Verwaltung, die Kosten für die Baustelle mit - und das ist umstritten.
Der Deutsche Anwaltverein sagt klar: Wenn die Erschließungskosten mehr als 25 % der Gesamtkosten des Grundstücks ausmachen, ist das unangemessen. Ein Grundstück für 80.000 Euro? Dann dürfen die Erschließungskosten nicht über 20.000 Euro liegen. Aber in ländlichen Gebieten, wo Grundstücke oft günstiger sind, ist diese Grenze schnell überschritten. Und dann wird es unfair.
Warum ist das System so undurchsichtig?
Die größte Kritik: Keiner weiß, was er zahlen muss - bis es zu spät ist. Du kaufst ein Grundstück, weil der Makler sagt: „Erschließung ist schon vorhanden.“ Aber was heißt das? Ist die Straße schon da? Ist das Abwasserrohr bis zur Grundstücksgrenze verlegt? Oder ist nur ein Plan vorhanden? Der Unterschied kann 20.000 Euro ausmachen.
Im Jahr 2023 hat der Deutsche Mieterbund 1.200 Bauherren befragt. 57 % sagten: Die tatsächlichen Kosten lagen mindestens 30 % höher als erwartet. Ein Nutzer auf ImmobilienScout24 berichtete von 32.500 Euro - für ein 450 m² Grundstück in Niedersachsen. Die Rechnung kam zwei Jahre nach dem Hausbau. Ein anderer Nutzer in Baden-Württemberg musste 18.700 Euro zahlen - obwohl der Makler versichert hatte, das Grundstück sei „erschlossen“.
Warum? Weil die Satzungen der Gemeinden nicht öffentlich verständlich sind. Sie sind in juristischem Deutsch geschrieben, oft veraltet, und niemand erklärt sie dir. Die Gemeinde sagt: „Wir haben eine Satzung.“ Aber sie sagt nicht: „Hier ist dein Preis.“
Was kannst du tun, bevor du kaufst?
Das ist der wichtigste Punkt: Du musst nicht ahnungslos sein. Du kannst dich informieren - und zwar vor dem Kauf. Nicht danach.
- Frag beim Bauamt nach: Fordere die aktuelle Erschließungsbeitragssatzung der Gemeinde an. Das ist kein Geheimdokument. Jeder Bürger hat das Recht darauf. Lass dir die Berechnungsgrundlage erklären.
- Prüfe den Stand der Erschließung: Ist die Straße schon fertig? Liegt das Abwasserrohr bis zur Grundstücksgrenze? Gibt es einen konkreten Zeitplan? Frag nach einem Lageplan - nicht nur nach Worten.
- Bitte um eine schriftliche Kostenschätzung: Die Gemeinde ist verpflichtet, dir eine ungefähre Summe zu nennen. Mach dir diese schriftlich. Und lass sie unterschreiben. Das ist dein Beweis später.
- Vertragsklausel im Kaufvertrag: Schreibe in den Kaufvertrag: „Der Verkäufer verpflichtet sich, alle bis zum Kaufdatum anfallenden Erschließungskosten zu tragen. Nachträgliche Kosten übernehmen wir nicht.“ Ohne diese Klausel bist du aufgeschmissen.
- Hole dir einen Fachanwalt: 41 % der Kaufverträge enthalten Fehler bei der Erschließungskosten-Regelung. Ein Anwalt für Bau- und Architektenrecht kostet 500-800 Euro. Das ist Geld, das du später nicht zahlen musst.
Die Bearbeitungszeit für diese Anfragen beträgt meist 3-4 Wochen. In ländlichen Gemeinden schneller, in Großstädten etwas länger. Aber das ist Zeit, die du investieren musst. Sonst zahlst du später doppelt.
Wie sieht die Zukunft aus?
Die Bundesregierung hat im Juli 2023 einen Entwurf vorgelegt: Eine Obergrenze von 20.000 Euro pro Wohnbaugrundstück. Das wäre ein großer Schritt. Aber es ist nur ein Entwurf. Bis er Gesetz wird, dauert es Jahre.
Parallel dazu plant der Deutsche Städtetag, die Berechnungsverfahren zu modernisieren. Mehr Transparenz. Mehr Standardisierung. Endlich. Denn aktuell ist es ein Wildwest: In einer Gemeinde zahlt man nach Quadratmeter, in einer anderen nach Anzahl der Anschlüsse, in einer dritten nach der Entfernung zum Hauptkanal. Das ist ungerecht. Und es schreckt Bauwillige ab.
Ein weiterer Knackpunkt: Sind Erschließungskosten steuerlich absetzbar? Derzeit ist das unklar. Ein Finanzgericht in München hat im April 2023 entschieden: Ja, sie gehören zu den Anschaffungskosten und können abgesetzt werden. Aber andere Gerichte sagen Nein. Der Bundesfinanzhof wird bis Anfang 2024 entscheiden. Das könnte dich als Bauherr später im Steuerjahr betreffen.
Was ist der Preis für bezahlbaren Wohnraum?
Wenn du Erschließungskosten streichst, wird es billiger. Aber dann gibt es keine Straßen. Keine Abwasserkanäle. Keine sicheren Gehwege. Die Gemeinde kann nicht mehr bauen. Und dann bleibt das Grundstück unbebaut. Das ist kein Traum, das ist Realität in vielen Regionen.
Die Frage ist nicht: „Sollen wir Erschließungskosten abschaffen?“ Sondern: „Wie können wir sie fair, transparent und vorhersehbar machen?“
Es geht nicht darum, Bauherren zu bestrafen. Es geht darum, sie nicht zu täuschen. Es geht darum, dass du, wenn du ein Grundstück kaufst, genau weißt, was du bezahlst - nicht nur für das Land, sondern für das, was darauf kommt.
Die Erschließungskosten sind kein Nebenkosten-Abfall. Sie sind ein zentraler Teil des Neubauprozesses. Und sie sollten nicht zum Fallstrick werden, der deine Finanzplanung zerstört. Informiere dich. Frag nach. Schreib es in den Vertrag. Und dann kannst du beruhigt bauen - ohne böse Überraschungen.
